Zebra im Schlafzimmer

 

Hinrich staunte nicht schlecht, als er ziemlich spät aufwachte und vor seinem Bett ein Zebra wahrnahm. Er rieb sich erstaunt die Augen, kniff sich in die rechte Wange und hüstelte verstört. Das hatte es ja noch nie gegeben. An Hunde, Katzen, Vögel, Fledermäuse, Insekten und Geckos (im Urlaub) war er gewöhnt, da er immer bei offenen Fenstern schlief. Größere Tiere hatten es bisher noch nicht in sein Schlafzimmer geschafft. Zwar gelang es bereits einer Kuh und einem Esel vom nahen Bauernhof, den Kopf zum Fenster hereinzustecken, doch mit einem Zebra als einem leibhaftigen Zimmergenossen hatte er in seinen kühnsten Träumen nicht gerechnet. Hinrich sprach es ziemlich ungehalten an:

   "Wie, zum Teufel, kommst du denn hier herein?"

Das Zebra verhielt sich still. Es bewegte sich auch nicht. Es stand direkt an der Seite des Bettes, an der er regelmäßig aufstand. Diesmal stieg er an der anderen Seite aus dem Bett, weil sich das Tier nicht rührte. Hinrich wurde wütend:

   "Mach, dass du Boden gewinnst. Was suchst du in meinem Schlafzimmer?"

Er setzte sich seine Brille auf und sah sich das Zebra genauer an. Etwas schien ihm merkwürdig. Da sich das Zebra immer noch nicht bewegte, stieß er es leicht an der Hinterhand an. Das Zebra fiel nun auf die Seite. Jetzt war klar, dass es ein präpariertes Tier war. Für Hinrich wurde die Situation immer kurioser. Wer stellte ihm ein Zebra ins Schlafzimmer, und wo kam es her? Wollte ein Wanderzirkus Werbung für seine Vorstellungen machen? Warum gerade in seinem Schlafzimmer? Er war ratlos, stellte das Zebra aber wieder auf die Beine.

Hinrich ging in die Küche und schaltete den Fernseher ein. Dann trottete er zum Briefkasten und holte die Zeitung. Beim Frühstück blätterte er in der Zeitung und sah ein Bild, das ihn frösteln ließ. Er wollte es nicht glauben. Auf dem Bild war das Zebra vor seinem Bett zu sehen, in dem er, Hinrich, schlafend lag. Als sich nun noch zwei Fernsehmoderatoren in einer der belanglosen Plaudersendungen am Vormittag lustig über ihn und das Zebra im Schlafzimmer machten, begriff er gar nichts mehr. Er war zutiefst schockiert. Fing so eine Umnachtung seines Geisteszustandes an?

Er ging auf die Straße, weil er glaubte durch einen längeren Spaziergang würde sich alles doch noch aufklären. Als er nun auch noch sah, wie ein Plakatkleber an den Reklameflächen sein Schlafzimmerbild mit dem Zebra anleimte, flüchtete er in den nahen Wald. Er rannte bis ihm der Schweiß in Strömen am Körper herunterlief. Völlig erschöpft setzte er sich auf einen Baumstumpf. Nach geraumer Zeit kam er langsam wieder zu sich. Er ging zu seinem Haus zurück.

Vor seinem Haus hatte sich eine Menschenmenge gebildet, da ein Filmteam sich anschickte, den Hauseingang auszuleuchten, Kabel zu verlegen und Kameras zu positionieren. Hinrich bahnte sich einen Weg durch die Gaffer und das Equipment des Filmteams. Er beäugte neugierig einen Cateringwagen, in dem bereits der Alkohol reichlich floss. Er wollte in sein Haus zurück. Doch der Hauseingang war weiträumig abgesperrt. Ein Kerl aus dem Filmteam verweigerte ihm den Durchgang, indem er Hinrich ziemlich rüde anfuhr und zurückstieß:

   "Hier können sie nicht rein! Wir warten auf unseren Hauptdarsteller!"

Hinrich zog sich zurück und sagte ziemlich schüchtern:

   "Da können sie aber lange warten."

Hinrich hatte bei seinem überstürzten Weggang aus dem Haus vergessen, die Tür abzuschließen. Da sich im Haus trotz langer Klingelei nichts rührte, ging ein stimmgewaltiger Kerl des Filmteams ins Haus und kam nach etwa drei Minuten mit dem Zebra heraus, das er triumphierend an den Hinterläufen gepackt vor sich her trug. Er rief den anderen Filmleuten zu:

   "Wenigstens das Zebra ist da!"

Langsam dämmerte es Hinrich. Zu seinen Vorlieben zählte es, an diversen Preisausschreiben und Rätselwettbewerben teilzunehmen. Ihm fiel nun ein, dass er vor Monaten an einem Preisausschreiben eines bekannten Reiseveranstalters teilgenommen hatte, bei dem die Zahl der Zebras in der Serengeti geschätzt werden sollte. Offenbar hatte er die beste Schätzung abgegeben und den Hauptpreis gewonnen. Jetzt las er auch den Text auf den Plakaten. Dort stand:

„Viele glauben, ein Zebra kann man nicht reiten? Wir wissen es besser! Aus dem Schlafzimmer zum Zebrareiten direkt in die Serengeti.“

Die Werbeaktion verlief äußerst erfolgreich. Der Reiseveranstalter erfreute sich eines enormen Anstiegs der Buchungen. Allerdings wurde der Hauptgewinner Hinrich von einem aggressiv-bissigen und bockigen Zebra in den Savannenstaub befördert. Er laborierte an seiner geschundenen Lende noch mehrere Monate und entwickelte eine gesunde Skepsis gegenüber Werbesprüchen.

(Veröffentlicht in: Alois im Spiegelland)

Power to the People

 

Die Proteste gegen Pleite- und Zockerbanken, die nun mit Staatsgeldern aus ihrem Dilemma gerettet werden mussten, verschärften sich. Doch was konnten die aufgebrachten Steuerzahler tun. Ihr Unmut hielt sich immer noch in Grenzen, obwohl nach den Katastrophen die Boni und Gehälter der Zocker in schwindelerregender Höhe noch weiter wuchsen. Mehr noch, die wie aufgedunsene Goldfische in ihrem trüb-schlammigen Teich schwimmenden Hasssubjekte verhöhnten die Demonstranten nach Strich und Faden. Einem Journalisten war zu Ohren gekommen, wie sich zwei der geheimen Staatslenker über die ungehaltene Menschenmenge vor ihrer Bank lustig machten. Der erste Bänker:

   "Sollen sie doch ihre aufgestauten Aggressionen ablassen. Sie schaden sich nur selbst, wenn sie hier herumbrüllen und womöglich die Fassaden unserer Institute ramponieren. Mit dem roten Mob sind wir anno 68 auch fertig geworden."

Der zweite Bänker lässt den Feingeist heraushängen und gibt noch lachend eins drauf:

   "Diese Spottgeburten von Dreck und Feuer, was können uns die armseligen Hosenscheißer schon anhaben."

In der Regierung bemühte man sich redlich, die Wünsche der Bänker mit „Rettungsschirmen“ zu erfüllen. Ja es ging sogar soweit, dass man Geburtstagsfeiern für die einflussreichsten Bosse ausrichtete. Kanzler und Minister gratulierten mit feierlich gesetzten Worten und vergaßen nicht, die Meriten der Gehuldigten zu würdigen. Die Festbankette gestalteten sich zu wahren Orgien für die verwöhnten Gaumen. Ein oberflächlicher und verkürzter Blick auf nur vier Gänge des Menüs sei uns vergönnt, sodass Neidgefühle im Keime erstickt werden:


* Bio-Blattsalat in Balsamicovinaigrette mit getrockneten Freilandtomaten, schwach gerösteten Pinienkernen und norwegischem Wildlachsfilet mit Rucolakrüstchen,

* Schaumsüppchen vom Rahmspinat mit Bio-Trüffel und vorpommerschem Wachtelei,

* Rücken vom freilaufenden Frischling im Walnussmäntelchen auf gebratenen Waldpilzen mit Gemüse vom Bio-Markt und österreichischen Schupfnudeln,

* Passionsfruchtmousse im Baumkuchenkränzchen auf Carpaccio von der Babyananas und Champagnercremesorbet.

 (das variierte Menü nach Thomas Weisbach)

 

Der Blick in die Getränkekarte war dazu angetan, dass man schon vom Lesen der kredenzten Spirituosen einen leichten Schwips bekam.

Das Menü wurde serviert. Die ca. 100 Gäste aus Wirtschaft und Politik langten trotz ihrer in Gourmet-Restaurants erworbenen Verwöhntheit beherzt zu. Die Frauen hatte man sich nach kurzer Zeit bereits schön getrunken, und die Kellnerinnen klagten über blaue Flecke an den Oberschenkeln und am Po. Es war noch keine Stunde vergangen, als einige Gäste bereits die Toiletten aufsuchten. Obwohl für eine solche Veranstaltung im Normalfall ausreichende Möglichkeiten zur Verrichtung der Notdurft vorhanden waren, bildeten sich bereits Schlangen vor den Kabinen. Da sich Männer, wie bei solchen Anlässen gewohnt, in der Überzahl befanden, lenkte ein Maître de Plaisir auch Herren auf Damentoiletten, weil viele sonst so souveräne Männer ängstlich die Backen zusammenkniffen und in die Kavaliertaschentücher stöhnten. Das Menü hatte eine rasante Geschwindigkeit durch die Verdauungstrakte genommen. Bei der Entsorgung entstanden urige Laute, die bis in den Speisesaal drangen. Das animierte den Rest der Gäste, ebenfalls die „stillen Örtchen“ aufzusuchen, weil sie nun auch ein unaufschiebbares Drängen verspürten. Man suchte beim Veranstalter des Festbanketts aufgeregt nach dem Grund der Massendiarrhö. Der Innenminister handelte mit verkniffenem Gesicht und gekreuzten Beinen umgehend und setzte eine Ad-hoc-Arbeitsgruppe ein, der bereits entleerte Mitglieder angehörten. Die Arbeitsgruppe vermutete einen Terroranschlag.

Wie man sich denken kann, reichten die Toiletten für 100 Personen in einer derartigen Notsituation bei weitem nicht aus, sodass die Gäste mit stelzenden Schritten sich des Kanzlergartens bemächtigten. Hier entluden sich in nicht so beengter Atmosphäre wahre Stürme der Befreiung, ohne dass es noch Schamgrenzen zwischen den auf dem Rasen hockenden männlichen und weiblichen Gästen gab. Man entleerte, was der Darm hergab. Beflissene Kellner versorgten die Gäste mit ökologisch einwandfreiem Toilettenpapier.

Was war geschehen? Der Chefkoch hatte für die überwiegend dem christlichen Glauben anhängenden Potentaten das „Oil of Palma Christi“ mit viel Geschick in die Speisen einfließen lassen, wobei sich die Balsamicovinaigrette besonders gut eignete. Er konnte rechtzeitig unbemerkt die Stätte der ungezügelten Enthemmung verlassen. Aus einem südlichen Land schrieb er eine Postkarte, auf der ein Rizinusbaum (auch Wunderbaum genannt) in seiner ganzen Schönheit prangte.

(Veröffentlicht in: Alois im Spiegelland) 

 

Malerfürst Bazon Blasemann

 

Bazon Blasemann schien in der Kunstszene eine unangefochtene Stellung zu genießen. Alle seine Werke gingen pro Stück nicht unter 100.000 Euro an die Sammler und Museen. Er hatte sich eine einfache und von den Kritikern als genial bezeichnete Technik der Malweise zu eigen gemacht, die er sich patentieren ließ, um sich vor Nachahmern zu schützen. Als Student und später in einer Meisterklasse begab sich sein Professor mit Farbtöpfen auf eine Leiter oder ein Podest, am besten schien eine Empore geeignet. Bazon musste mit einer Leinwand unter ihm hin und her rennen, während der Professor, ohne auf den Schüler besonders zu achten, Farbe in dicken Schwaden oder fein ziseliert über die Leinwand goss. Manchmal sah Bazon dabei aus, speziell, wenn rote Farbe angesagt war, wie ein abgestochenes Schwein.

Diese Malweise vervollkommnete Blasemann in folgender Weise. Das ging so. Er erwarb eine nicht mehr genutzte Werkhalle, die er mit einer in horizontaler und vertikaler Richtung schwenkbaren Arbeitsbühne ausstatten ließ, ähnlich den Schwenkkörben der Holzarbeiter, die Alleebäume beschneiden, in der er mit seinen Farben bequem stehen und sich bewegen konnte. Der Boden der Werkhalle, vorher akkurat planiert, wurde mit grundierter Leinwand vollständig ausgelegt. Das Neue bestand darin, dass sich nicht mehr die Leinwand bewegte, sondern der Professor selbst. Der Künstler Blasemann, der sich mit Computerprogrammen und Robotertechnik überhaupt nicht auskannte, entwickelte mit einem Spezialisten der Chaostheorie und einem Mechatroniker, der vorher eine vollautomatisierte Autofabrik eingerichtet hatte und anschließend seinen Job verlor, eine Choreografie für den horizontal und vertikal beweglichen Arbeitskorb.

Die Leistung des Malerfürsten bestand nun darin, sich mit allerlei Farben einzudecken, sich auf die in alle Himmelsrichtungen, nach unten und nach oben zu steuernde Arbeitsbühne zu begeben und nach Gutdünken Farbe aus Eimern, Töpfen und Tuben auf den Boden zu gießen, zu werfen oder zu spritzen. Später musste sich dann der Genius entscheiden, in welcher Größe er Stücke aus der riesigen Leinwand schnitt. Der Mechatroniker beriet ihn dabei über den optimalen Zuschnitt, so dass kaum Restposten übrigblieben. Mit zugkräftigen Titeln wollte er die Bilder einem sachverständigen Publikum offerieren. Titel, wie „Aschaffenburg im Nebel“, „Karo 8“, „Fürst Igor nach dem Rasieren und vor dem Imkern“ oder einfach „PQX Jagen 12“. Bazon hasste Maler, die unter ihre Werke „Ohne Titel“ schrieben, weil sie offenbar selbst nicht wussten, was sie da gemalt hatten. Nach etwa 20 Minuten waren die Farbbehälter meist vollständig entleert und Bazon oft einem Schwindelanfall nahe, je nach dem, wie schnell die Geschwindigkeit des stochastisch durch die Gegend rasenden Arbeitskorbes eingestellt war. Selbstverständlich hatte er anfangs mit geringer Geschwindigkeit begonnen. Doch mit der Zeit erkannte er, dass sich die Bildqualität verbesserte, je schneller sich die Arbeitsbühne bewegte. Mitunter raste die Bühne so vehement durch die Halle, dass Blasemann Mühe hatte, die Farbbehälter auf den Boden zu schütten. Der Arbeitskorb tropfte an allen Ecken und Enden. Selbst Bazon war manchmal über und über mit Farben verschmiert. Doch das war ein zusätzlicher Kunstgriff, der den Bildern oft die geniale Reife verlieh.

Offenbar unterschätzten die zwei Experten, die den ruhelosen Blasemann bei seinen Schöpfungsakten mit ihrem technischen Verstand begleiteten, die manchmal unkontrollierbaren Auswirkungen der Chaostheorie. Man erinnere sich an den Flügelschlag eines Schmetterlings auf Borneo, der an der iberischen Küste einen Wirbelsturm auslösen könnte aber nicht unbedingt zwingend auslösen muss. Man konnte sich denken, dass etwas Ähnliches auch in Blasemanns Halle möglich wäre. Und tatsächlich, Bazon versuchte gerade mit der Farbe „grün“, die Gedanken des Generals Holofernes vor dem Köpfen durch Judith bildlich zu realisieren, als sich seine Bühne durch Rotation in die Höhe schraubte und das Hallendach durchbrach. Bazon hatte sich reaktionsschnell auf den Boden der Bühne geduckt, so dass er dank der soliden Stahlkonstruktion des Korbes mit ein paar Schrammen und dem Schrecken davonkam. Die Arbeitsbühne fand Gott sei Dank den gleichen Weg zurück und knallte auf die Leinwand am Boden. Der mit einem Farbcocktail überwucherte Blasemann wurde aus dem Korb herausgeschleudert und rollte wie eine Lawine über die Leinwand. Damit war eine neue kreative Idee geboren. Die neuen Bilder erzielten Höchstpreise und wurden von der Kritik überschwänglich wegen ihres intellektuellen Durchbruchs gefeiert.

(Veröffentlicht in: Attacken mit Finten)